
Bunye Ngene
Bunye Ngene wuchs in Lagos, Nigeria, auf. Nach seinem Bachelorabschluss in Germanistik an der Universität Ibadan zog er nach Deutschland, um an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen Master in Deutsch als Fremdsprache zu absolvieren.Sein Debütroman The Bodies That Move (deutscher Titel: Die Körper, die sich bewegen) war Finalist des Next Generation Indie Book Awards 2021 und Semifinalist des BookLife Prize 2021. Außerdem wurde er beim LovelyBooks Community Award 2023 in der Kategorie "Literatur" nominiert.Seine Geschichten - auf Deutsch und Englisch - sind von der Einzigartigkeit des Alltags und dem Zusammenspiel verschiedener sozialer Gruppen inspiriert.
Er lebt in München.
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WechselpräpositionenBardhana ging die Treppe hoch. Im ersten Stock angekommen lehnte sie sich keuchend ans Treppengeländer. Schon wieder war der Aufzug außer Betrieb, das zweite Mal innerhalb von drei Wochen. Plötzlich vibrierte es in ihrer Tasche. Sie steckte die Hand hinein und griff nach dem vibrierenden Gerät. Auf dem leuchtenden Bildschirm stand über den roten und grünen Symbolen „Andon”. Sie schaltete das Telefon aus und steckte es wieder ein. Was immer es sein mochte, er musste nun ohne sie auskommen. Bardhana setzte ihre Odyssee fort. Nach einer zweiten Pause im zweiten Stock kam sie endlich ans Ziel. Sie öffnete die Tür zu Zimmer F3.07. Da waren die anderen Teilnehmer. Alle schauten auf ihre Smartphones und tippten eifrig.„Hallo“, sagte sie in die Runde. Ein paar konnten es sich leisten, ihre Blicke für ein paar Sekunden von ihren Handys wegzureißen, um sie wahrzunehmen. Die meisten erwiderten ein kaum vernehmbares Hallo, ohne sie jedoch anzusehen.Bardhana setzte sich auf einen freien Stuhl und wischte mit der Hand über den Tisch. Auf ihm lagen abgeriebene Radiergummireste. Offensichtlich war vorher eine andere Gruppe in dem Raum gewesen, dachte sie bei sich. Sie warf einen Blick in die Runde.Da war Maria aus Kolumbien, die von den Teilnehmern am längsten in Deutschland lebte: 20 Jahre. Nun wollte sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Dafür musste sie zuerst einen Integrationskurs erfolgreich absolvieren. Dass sie es als eine Zumutung empfand, einen Sprachkurs mit anderen schlecht deutschsprechenden Ausländern zu besuchen, tat sie bei jeder Gelegenheit kund. Sie spreche ja perfektes Deutsch, meinte sie andauernd. Aber irgendwas musste ja an ihrem „perfekten Deutsch“ nicht stimmen, wenn die Einbürgerungsstelle ihr den Besuch eines Integrationskurses antrug, dachte sich Bardhana. Neben ihr saß Eylül, erst seit 5 Monaten in Deutschland. Davor lebte sie in Izmir, wo sie ihren türkischen Mann kennenlernte. Der wohnte aber schon seit Ewigkeiten in Deutschland und hatte sogar einen deutschen Pass. Und dann gab es John aus Ghana, der immer eine Kappe trug und darauf bestand, dass alle ihn Johann nannten, weil das für einen Afrikaner einfach exotischer klang. Amina, seine Sitznachbarin aus Tunesien, studierte Ingenieurwissenschaften in Tunis und sprach mit einem französischen Akzent, der Bardhana am Anfang etwas irritiert hatte. Sie hatte nämlich nicht gewusst, dass man in Algerien Französisch sprach. Heute trug Amina ein rotes Kopftuch mit bunten Blumenmustern. Sie trug immer schöne Kopftücher. Als Kind trug Bardhana sie auch, nun aber seit langem nicht mehr. Dann gab es die schüchterne und zurückhaltende Lejla aus Bosnien. Vorne saß Reyansh, aus Indien. Er war zweifelsfrei der Streber der Gruppe. Der meldete sich bei jeder Gelegenheit, entweder um Fragen zu beantworten oder sie zu stellen. Wobei er oft Fragen zu Themen hatte, die erst im nächsten Modul bearbeitet werden sollten. Dieses Verhalten, so fand Bardhana, verfolgte zwei Ziele: Der Lehrerin zu imponieren und den anderen Teilnehmern zu zeigen, wie fortgeschritten er war. Es genügte zu sagen, dass Reyansh nicht besonders beliebt war. Dann waren da noch Jakub und Szymon, beide Cousins aus Polen. Szymon schien der sprachlich begabte der beiden zu sein. Er übersetzte Jakub alles simultan ins Polnische, sodass Jakub kaum jemals einen einzigen Satz auf Deutsch zustande brachte.Die quietschende Tür brach Bardhanas Gedanken ab. Frau Sokolova trat lächelnd ein. Sie war eine blonde, schlanke Russin Anfang vierzig, die ihren deutschen Mann vor etwa 10 Jahren in Russland kennenlernte. In Deutschland angekommen absolvierte sie ein Bachelorstudium in Deutsch als Fremdsprache. Seit 3 Jahren leitete sie Integrationskurse. Das alles teilte sie der Gruppe in der ersten Unterrichtsstunde mit, als Teil des gegenseitigen Kennenlernens. Heute sah sie, wie immer, sehr stilvoll aus, stellte Bardhana fest. Sie trug eine weiße Seidenbluse. Eine knöchelhohe, enge marineblaue Hose akzentuierte ihre kurvige Hüfte und langen Beine. Aus den dunkelblauen Peeptoepumps guckten dunkelrot lackierte Fußnägel heraus, die die Farbe mit ihren Fingernägeln teilten. Ihre Erdbeerblonden Haare wurden straff nach hinten gezogen. Eine goldene Haarbrosche hielt die Frisur zusammen, sodass keine einzige Strähne deplatziert war.„Guten Tag zusammen“, sagte sie lächelnd.„Guten Tag“, antwortete die Klasse im Chor, wobei die Männerstimmen deutlicher zu vernehmen waren. Begaffend lächelten sie Frau Sokolova an. Bardhana verdrehte die Augen.„Zuerst möchten wir die Hausaufgaben kontrollieren. Wer hat sie gemacht?“Als Antwort bekam die Lehrerin Stille und ein paar schuldige Blicke. Nur Reyansh hob erwartungsgemäß die Hand. Bardhana hatte zwar die Hausaufgabe gemacht. Da sie jedoch sicher war, dass ihre Antworten alle falsch waren, blieb auch sie still.„Hausaufgaben sind sehr wichtig. Wenn Sie die Hausaufgaben nicht machen und zu Hause nicht lernen, verlernen sie alles.“ Beim Aussprechen der Wörter verlernen und sehr konnte man Frau Sokolovas slawischen Hintergrund ganz deutlich erkennen. Die Betonung der Rs war unüberhörbar.„Ja, Sie haben recht, Lehrerin. Wir müssen Deutsch lernen. Wir sind jetzt in Deutschland“, gab Reyansh selbstgefällig von sich. Die bösen Blicke, die er von den anderen Teilnehmern für seine Arschkriecherei erntete, schien er nicht im Entferntesten zu bemerken. Die einzige Reaktion, für die er sich interessierte, bekam er von der Lehrerin: Ein zustimmendes Nicken.Nach der gemeinsamen Korrektur der Hausaufgaben griff Frau Sokolova nach der Kreide und schrieb auf die Tafel Wechselpräpositionen. Sie wandte sich der Klasse zu. Auf ihrer marineblauen Hose waren nun weiße Kreidepartikel verstreut.„Heute lernen wir etwas über Wechselpräpositionen. Weiß jemand, was eine Wechselpräposition ist?“ Als Antwort bekam sie ahnungslose Blicke. Wenn wir das wüssten, säßen wir ja nicht hier, dachte Bardhana bei sich. Frau Sokolova schaute Reyansh erwartungsvoll an, der sonst auf alle Fragen eine Antwort parat hatte. An Reyanshs Gesicht war diesmal jedoch seine Ahnungslosigkeit klar zu erkennen. Um die schöne Lehrerin aber nicht zu enttäuschen, wagte er eine Antwort.„Wechselpräposition ist zum Beispiel, ich gehe Supermarkt einkaufen. Ich kaufe zum Beispiel Brot. Aber zu Hause, ich sehe Brot ist kaputt. So ich gehe zurück in Supermarkt und ich wechsele Brot.“ Dem Wort wechsele gab er eine hörbare Betonung. Wahrscheinlich um den Zusammenhang zwischen seiner Antwort und der Frage herauszustellen.„Netter Versuch, Reyansh. Aber das ist nicht ganz richtig“, antwortete Frau Sokolova in einem beschwichtigenden Ton. Da sich sonst keiner meldete, fuhr sie fort.„Dann erkläre ich Ihnen, was Wechselpräpositionen sind.“ Zu einer Erklärung kam sie jedoch nicht. Die Tür sprang nämlich auf. Herein trat Hanh.„Entschuldigung, Lehrerin. U-Bahn Verspätung.“„Kein Problem, Hanh. Setzen Sie sich ruhig hin“, antwortete Frau Sokolova, von der Entschuldigung unbeeindruckt. Sicher wunderte sie sich, mit welcher U-Bahn Hanh fuhr, die seit Beginn des Kurses immer Verspätung hatte. Bardhana wusste aber, dass Hanhs wiederholtes Zuspätkommen nichts mit der Effizienz der öffentlichen Verkehrsmittel zu tun hatte. Eine viel wahrscheinlichere Erklärung war die Tatsache, dass Hanh jeden Tag um 5 Uhr aufstehen musste, um ihrem Bruder in seinem vietnamesischen Restaurant zu helfen. Zwischen 12 und 14 Uhr war Hochbetrieb. Da der Unterricht jeden Tag um 14 Uhr anfing, war es für Hanh beinah unmöglich, pünktlich zum Unterricht zu kommen. Sie setzte sich lächelnd zu Bardhana und holte ihre Bücher heraus.Frau Sokolova fuhr mit dem Unterricht fort. „Wechselpräpositionen sind Präpositionen, die sowohl mit Akkusativ, als auch mit Dativ stehen können.“ Die Teilnehmer schrieben eifrig diese Erklärung auf, auch wenn auf einigen Gesichtern immer noch Ahnungslosigkeit zu sehen war.„Wichtig ist dabei, ob es eine Bewegung gibt“, fuhr die Lehrerin fort.Sie wandte sich wieder zur Tafel und schrieb das Wort Bewegung darauf.„Alle das Wort wiederholen“, forderte sie die Klasse auf.Im Chor sprachen alle den Begriff nach, wobei sie die zweite Silbe ganz langsam ausdehnten: BeweeeegungFrau Sokolova wiederholte das Wort und wiegte sich anschaulich hin und her. Die Teilnehmer ahmten nach. „Beweeeegung“, schrie sie nochmals. Die oszillierende Bewegung in Kombination mit dem Psalmodieren brachte einige Teilnehmer zum Kichern.„Wenn es keine Bewegung gibt, benutzt man das Fragewort wo und antwortet immer im Dativ. Wenn es aber eine Bewegung gibt, benutzen wir das Fragewort wohin. Dann muss man im Akkusativ antworten.” Sie wandte sich erneut zur Tafel und schrieb die Wörter wo und wohin darauf.„Ein Beispiel ist die Präposition auf. Die kann man mit Dativ und Akkusativ benutzen.“ Frau Sokolova nahm ein Buch und legte es ganz langsam und schauspielerisch auf den Tisch. Diese Handlung begleitend sagte sie: „Wohin lege ich das Buch?” Sie wartete keine Antwort ab. „Ich lege das Buch auf den Tisch. Man sagt den Tisch, weil das Akkusativ ist.“ Sie betonte das Wort den um seine Wichtigkeit für ihre Erklärung deutlich zu machen. „Aber jetzt, wo das Buch auf dem Tisch ist und es keine Bewegung mehr gibt, fragt man: Wo ist das Buch? Und die Antwort ist: Das Buch ist auf dem Tisch.“ Diesmal lag die Betonung auf dem, merkte Bardhana, als sie die Sätze aufschrieb. Dabei fragte sie sich, wer zum Teufel auf die Idee kam, eine bewegende Handlung mit dem Akkusativ und einen stationären Zustand mit dem Dativ zu verbinden. Worin bestand bitteschön die Logik? Sie überlegte sich, ob ein ähnliches sprachliches Phänomen im Albanischen auch zu finden war.„I have a question.“ Der Satz riss Bardhana aus ihren Überlegungen. Noch bevor sie den Sprecher sah, wusste sie schon, wer es war. Seitdem John herausgefunden hatte, dass die Lehrerin Englisch verstand und passabel sprechen konnte, hatte er sich entschlossen, alle seine Fragen nur noch in dieser Sprache zu stellen. In Ghana sprach man anscheinend Englisch.„Auf Deutsch bitte“, antwortete Frau Sokolova entschlossen. „Sie sind hier im Deutschkurs. Sie müssen Deutsch sprechen.“„Okay, no problem. Meine question ist, wenn ich sage zum Beispiel: Das Buch ist auf den Tisch. Die Leute verstehen mich oder nicht?“„Ja, die Deutschen verstehen Sie zwar, aber dann ist der Satz grammatisch falsch“, antwortete die Lehrerin seufzend.„Is mir egal“, sagte John grinsend, offensichtlich mit seiner nonchalanten Attitüde zufrieden. Zustimmung bekam er von den anderen Teilnehmern. Auch Bardhana fand, dass es letztendlich doch egal war, ob man den Tisch oder dem Tisch sagte. Solange man Tisch sagte. So penibel konnten die Deutschen ja nicht sein. Außerdem gab es weitere zigtausend Grammatikregeln, die man noch pauken musste.„Aber wir müssen richtig deutsch sprechen. Nicht Straßendeutsch“, konterte Reyansh und musterte John missbilligend. Dieser war im Begriff eine, wie es schien, nicht so schöne Antwort zu liefern, als die Lehrerin ganz laut sagte: „Wir machen jetzt eine Pause. Danach machen wir ein paar Übungen. Sie haben 30 Minuten.” Damit konnte glücklicherweise ein Wortgefecht unvorstellbaren Ausmaßes abgewendet werden. Bardhana schaute auf ihre Armbanduhr und entschied sich für einen schnellen Einkauf.Zum Glück war im Erdgeschoss des Gebäudes ein Obst- und Gemüseladen. Heute Abend stand Pasul an. Das war Andons Lieblingsgericht. Sie hatte fast alles, was sie dafür benötigte. Es fehlten nur Zwiebeln. Vor dem Laden stehend schaute sie sich die verschiedenen Zwiebelsorten an. Bardhana runzelte die Stirn und überlegte, welche sich am besten für das Gericht eignete. Sie war im Begriff, die Gemüsezwiebeln in die Hand zu nehmen, als es in ihrer Tasche vibrierte. Bardhana griff hinein und holte das Handy heraus.„Was willst du nun?”, fragte sie barsch.„Wo warst du die ganze Zeit? Ich versuche seit Stunden dich zu erreichen.”Andon klang wie ein verwöhntes, hilfloses Kind. Aber das war er nun mal. Sie hatte ihn zu sehr bemuttert. Zu Hause machte er keinen Finger krumm. Er wusste nicht mal, in welcher Schublade das Salz zu finden war. Und nach 35 Jahren Ehe, würde sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern. Aber wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie es auch nicht anders wollte. Sie mochte es, die Kontrolle zu haben. Das Gefühl ständig gebraucht zu werden, war ein Zeichen dafür, dass sie in seinem Leben noch relevant war. Ein Zeichen dafür, dass er ohne sie verloren wäre. Aber das würde sie niemals verraten. Sie spielte stattdessen lieber die Rolle der genervten Ehefrau, die keine Ruhe fand. Außerdem brauchten Männer Führung. Das hatte die Oma immer gesagt.„Was stellst du denn für dumme Fragen? Du weißt doch, dass ich im Deutschkurs bin.”„Oh, tut mir leid. Das habe ich vergessen”, antwortete Andon etwas unsicher.„Nun, sag schon. Was willst du denn? Ich bin jetzt beim Einkaufen.”„Weißt du, wo meine Socken sind? Ich finde sie nirgendwo.”Bardhana war im Begriff ihrem Mann auf Albanisch zu antworten, doch dann hielt sie inne. Sie räusperte sich, atmete ganz tief durch und sagte ganz langsam auf „Deine Socken sind unter dem Bett.” Die Wörter unter dem sprach sie noch langsamer aus, um sicherzustellen, dass sie den richtigen Kasus verwendete.Noch bevor Andon sich von dem unerwarteten Sprachwechsel erholen konnte, beendete Bardhana das Gespräch. Sie lächelte selbstzufrieden vor sich hin, als sie nach einer Gemüsezwiebel griff. ◾
Der MehrstaaterIch blickte zum blauen Infoscreen mit der blinkenden Nummer hinauf: T520. Ich nahm mein Handy aus der Hosentasche und öffnete zum gefühlt hundertsten Mal die Einladungs-E-Mail. Meine Wartenummer war dieselbe wie vor zehn Minuten: T530. Ich fragte mich, ob die Nummern nach der Reihenfolge aufgerufen werden, als ich meine beschlagene Brille absetzte. Sollte dem so sein, dann sollten eigentlich mehr Menschen im Raum sein, als es tatsächlich der Fall war. Ich justierte meine Maske und schaute mir die anderen Anwesenden an: ein Mann, der auf sein Handy schaute, und eine Frau, die mit zitternden Händen Blätter in eine rote Mappe einlegte, während auch sie wiederholt zur Anzeigetafel hinaufschaute. Sie murmelte leise vor sich hin, als sie aufstand und den Raum verließ.In meinen zehn Jahren in Deutschland hatte ich noch nie einen Warteraum in einer deutschen Behörde so still erlebt. Die Ruhe war mir unvertraut. In einem Raum mit fünfundzwanzig Plätzen saßen gerade mal zwei Personen. Ich schaute mir die mit rotweißen Klebestreifen versehenen Stühle an. An einige waren A4-Blätter mit der Beschriftung Mindestens 1,5 Meter Abstand halten und Nasen-Mund-Schutz immer tragen befestigt. Instinktiv rückte ich meine Maske erneut zurecht. Ich schaute auf mein Handy – 10:50 Uhr. In der Einladung stand 10:45 Uhr. Plötzlich hallte ein Signalton durch den Raum. Ich setzte meine Brille auf und schaute wieder auf den Infoscreen – T530.Ich ging auf der Suche nach dem richtigen Zimmer durch den gewundenen Flur und sah einen Mann aus einem Büro kommen. Der Schlüsselbund rasselte, als er die Tür zusperrte. Er trug ein längs gestreiftes Hemd, eine olivgrüne Dreiviertelhose und braune Sandalen. Mit Dreiviertelhosen habe ich mich nie anfreunden können. Ihre Unentschiedenheit stört mich. Eine Hose hat entweder über dem Knie aufzuhören oder ganz lang bis zum Knöchel zu sein. Auch er trug eine Brille und eine Maske und ich wunderte mich, wie er und andere Brillenträger es schaffen, normal zu atmen, ohne dass dabei die Brille beschlägt. Das Geheimnis blieb mir vorenthalten.„Nummer T530?“ fragte der Mann mit der Dreiviertelhose.„Ja.“„Könnten Sie bitte kurz draußen warten. Ich muss noch Ihre Sachen holen,“ sagte er und verschwand im gewundenen Flur.Ich setzte mich auf die graue Wartebank vor der Tür und fragte mich, wieso man meine Sachen nicht vorher geholt hatte.Ein paar Minuten später erschien er, diesmal mit einem großen Ordner in der Hand.„Kommen Sie bitte rein.“Ich folgte ihm in ein Büro, das in seiner Einrichtung dem entsprach, was man von einer deutschen Behörde erwartet: hellbrauner Tisch voller Stempel und graue Rollladenschränke.„So, Herr Ngene. Ich möchte Ihnen erst mal zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft gratulieren.“ Er setzte seine Maske ab und lächelte mir zu.„Danke schön.“ Ich nickte und erwiderte sein Lächeln.„Bevor ich Ihnen aber die Einbürgerungsurkunde aushändige, müssen wir erst mal ein paar wichtige Schritte durchgehen.“ Er schob mir ein Blatt zu, das ich ungelesen unterschrieb.„Nun darf ich Sie bitten, folgende wichtige Informationen aufzuschreiben,“ fuhr er fort.Ich fischte eifrig in meiner Umhängetasche nach einem Notizblock oder irgendetwas, auf dem ich schreiben konnte. Nichts. Mein Blick fiel schließlich auf die braune Versandtasche, in der ich meine Unterlagen aufbewahrte. Ich zog sie näher und fing an aufzuschreiben: Ich sollte Kopien der Einbürgerungsurkunde meinem Arbeitgeber, meiner Krankenkasse und meiner Bank vorlegen.„Aber geben Sie nie die originale Einbürgerungsurkunde aus der Hand. Bei Verlust derer wird nämlich keine neue ausgestellt.“ Er schaute mich eine Sekunde länger an, um mir die Ernsthaftigkeit dieser Aussage zu injungieren. Ich nickte, wie von mir erwartet. Mir gingen verschiedene schreckliche Szenarien, bei denen ich die Urkunde verlieren könnte, durch den Kopf: Brandfall, Erdbeben oder Überflutung. Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit, dass meine im ersten Stock liegende Wohnung im Münchner Norden in absehbarer Zeit überschwemmt wird, ist nicht besonders hoch. Und würde ich in Japan leben, wäre die zweite Option ein valider Grund zur Sorge, aber Ersteres kann man ja nicht komplett ausschließen.„Und noch etwas,“ sagte er. Vielleicht bildete ich mir das ein, aber es kam mir zumindest so vor, als ginge seine Stimme eine Oktave tiefer.„Sie haben sich ja dafür entschieden, die nigerianische Staatsbürgerschaft beizubehalten. Das ist an sich erlaubt. Sie müssen jedoch einiges dabei beachten.“ Er schob mir ein Blatt Papier zu. Ganz oben drauf stand Merkblatt für Mehrstaater. Was für ein trockenes Wort – Mehrstaater. Es klingt nach einem Autoteil. Der Beamte fasste den Inhalt des Blattes kurz zusammen: Sollte ich mich im Hoheitsgebiet des anderen Staates, in diesem Fall Nigeria, aufhalten, dürfte das Land mich so behandeln, als ob ich ausschließlich seine Staatsangehörigkeit besäße. Bei einem Vorfall könnte mir dann die deutsche Auslandsvertretung keinen wirksamen deutschen Rechtsschutz bieten. Das alles sagte der Beamte in einem Ton, der sich jede Art der Voreingenommenheit verbitten wollte, in seinen Augen las ich allerdings ein „Uns-wäre-es-lieber-wenn-du-nur-die-deutsche-Staatsbürgerschaft-hättest,-aber-da-du-so-gierig-bist-und-unbedingt-zwei-Staatsangehörigkeiten-haben-möchtest,-erfüllt-es-uns-mit-unbeschreiblicher-Freude-,-dir-mitteilen-zu-dürfen,-was-dir-alles-Schlimmes-passieren-könnte-wegen-deiner-Habgier.Diese Information war mir nicht neu. Sie hätte ohnehin nichts an meinem Mehrstaater-Status geändert. Die nigerianische Gesetzeslage lässt nämlich eine Aufgabe der Staatsbürgerschaft durch Geburt, wie in meinem Fall, nicht zu. Eine Tatsache die mich mit großer Erleichterung erfüllte. Denn sollte ich lediglich den deutschen Pass besitzen, so bräuchte ich ein Visum, um meine Familie in Nigeria zu besuchen – ein schwer zu ertragender Umstand.Dies beruht auf einem der Grundsteine der nigerianischen Außenpolitik, nämlich der der Reziprozität. Er besagt, dass die Bürger eines Landes, das ein Visum von nigerianischen Staatsbürgern verlangt, wie Deutschland, auch ein Visum für Nigeria benötigen. Auch wenn man auf den Listen der beliebtesten Reiseziele der Welt weiter nach unten schauen muss, um Nigeria zu finden – wenn es überhaupt draufsteht –, basiert die nigerianische Visapolitik weniger auf der Beliebtheit des Landes als vielmehr auf dem Wie-du-mir,-so-ich-dir-Prinzip. Ein Prinzip, das mich zugegebenermaßen mit einem gewissen Stolz erfüllt. Finde ich halt gerecht.Nichtsdestotrotz erschien mir die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft ein logischer Schritt. Mein Lebensmittelpunkt befindet sich in Deutschland: Freunde, Beruf und ein aktives Bankkonto. Und für jemanden, der politisch interessiert ist, gewährt mir die deutsche Staatsbürgerschaft ein starkes Instrument der politischen Mitgestaltung. Auch wenn es selbstverständlich viele andere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation gibt, die den deutschen Pass nicht voraussetzen.„Jetzt haben wir das geklärt,“ sagte der Beamte und holte ein hellgrünes Blatt aus einer Mappe heraus. Sanft drückte er einen Holzstempel darauf. Er schimpfte leise. Er presste den Stempel auf ein Stempelkissen und drückte den Stempel erneut auf das Blatt, diesmal nicht mehr so sanft.Es kamen zwei weitere Stempel hinzu – ein großer eckiger und ein kleiner runder, gefolgt von einer raschen Unterschrift. Er blickte auf mich hinauf und reichte mir das Blatt. Ich betrachtete dieses Blatt mit den vier Stempeln, zwei Unterschriften und ganz oben dem Bundeswappen. In meiner Hand hielt ich das Ergebnis eines Verfahrens, das vor zwei Jahren im Rahmen einer Erstberatung seinen Anfang nahm. Ein Treffen, das im selben Gebäude stattfand, aber bei einer Beamtin, die keinen Mund-Nasen-Schutz trug, weil zu dem Zeitpunkt, das Wort „Corona“ immer noch nur unter Virologen geläufig war. Die Beratung damals verließ ich nicht mit einer Urkunde, sondern einer langen Liste von Nachweisen, die ich für die Einbürgerung benötigen würde.„Noch was, Herr Ngene. Nächstes Jahr ist Bundestagswahl und ich muss Sie ausdrücklich bitten, von Ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Es gehört nämlich nun zu einem Ihrer Rechte als deutscher Staatsbürger.“„Wem sagen Sie das?! Natürlich gehe ich wählen! Warum glauben Sie, machen wir das alles hier?“ wollte ich den Mann mir gegenüber entgegenbrüllen. Stattdessen gab ich von mir ein schlichtes „Ja, mache ich.“Ich dachte darüber nach, dass ich mit 36 zum ersten Mal in meinem Leben meine Stimme bei einer Wahl abgeben werde. Als ich in Nigeria war, hatte ich lediglich ein Mal, und zwar im Jahr 2007, die Möglichkeit gehabt, den nigerianischen Präsidenten und den Gouverneur von Lagos zu wählen. Mein damaliges grundsätzliches Desinteresse an Politik, vor allem der nigerianischen Politik, und der fehlerhafte Registrierungsprozess führten jedoch dazu, dass ich von meinem Stimmrecht keinen Gebrauch gemacht hatte. Die nächste Wahl fand vier Jahre später statt – 2011. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits in München. Da jedoch die nigerianische Verfassung Staatsbürgern, die außerhalb des Landes wohnen, das Wahlrecht verwehrt, konnte ich seitdem nicht wählen. 2021 wird sich das aber ändern.„Damit wären wir am Ende. Ich wünsche Ihnen alles Gute und nochmals Gratulation.“Auch wenn in dem Moment, als ich die Urkunde in der Hand hielt, keine aus dem Himmel niederschwebende, goldene Kronen tragende, Halleluja singende Engelschar zu verzeichnen war. Auch wenn ich mir gewiss war, dass der Rassismus immer wieder sein hässliches Haupt in meinem Leben erheben wird. Auch wenn ich nicht vorhatte, in absehbarer Zeit die deutsche Fahne in der Hand schwingend durch die Gegend zu laufen oder vor jedem Frühstück, die deutsche Nationalhymne zu schmettern. Auch ohne all dies konnte ich das angenehme Gefühl, das sich in diesem Moment seinen Weg von meinem Bauch zu meinem Herzen bahnte, nicht unterdrücken. Es war das gleiche Gefühl, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich eine Geschichte zu Ende schreibe: das Gefühl, etwas erfolgreich vollbracht zu haben. In einer Welt voll von Abbrüchen – sowohl berechtigter als auch unberechtigter – und Ungewissheiten ist das erfolgreiche Abschließen jedes noch so kleinen Unterfangens ein Grund zum Feiern.Ich bedankte mich und verließ den Raum. Ich ging den Flur entlang Richtung Aufzug und legte dabei die Mappe mit dem grünen Blatt vorsichtig in meine Umhängetasche ein, begleitet von der Sorge, dass die Urkunde mit jeder Falte an Wert verliert. Während der Aufzug nach unten glitt, holte ich mein Handy heraus und gab in die Suchmaschine Bundestagswahl 2021 Datum ein. ◾